Wirtschaftlichkeitsprüfung – Beratung vor Regress

Bundessozialgericht, Urteil vom 22.10.2014 – B 6 KA 3/14 R

Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 22.10.2014, B 6 KA 3/14 R Feststellungen zur Anwendung des § 106 Abs. 5e SGB V getroffen, der eine individuelle Beratung der Ärzte bei Überschreitung des RGVol vor einer Regressfestsetzung vorsieht.

Leitsätze:
1. Die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung beurteilt sich grundsätzlich nach dem Recht, das im jeweiligen Prüfungszeitraum gegolten hat, soweit nicht etwas anderes ausdrücklich gesetzlich angeordnet ist; eine derartige Geltungsanordnung enthält § 106 Abs 5e S 7 SGB 5.
2. Der in § 106 Abs. 5e SGB 5 normierte Beratungsvorrang erfasst nur Prüfverfahren, die am 31.12.2011 noch nicht abgeschlossen waren und in denen die Entscheidung des Beschwerdeausschusses nach dem 25.10.2012 ergangen ist.
3. Eine „erstmalige“ Überschreitung des Richtgrößenvolumens setzt die Feststellung voraus, dass es in den vorangegangenen Prüfungszeiträumen nicht – zumindest einmalig oder gar wiederholt – zu Überschreitungen gekommen ist.
4. Relevant sind dabei nur Überschreitungen des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 vH, die nicht durch Praxisbesonderheiten begründet sind. Zudem bedarf es einer „förmlichen“ Feststellung der Überschreitung durch die Prüfgremien.
5. Die gesetzlichen Krankenkassen können sich nicht darauf berufen, dass einer Norm unzulässige echte Rückwirkung zukommt, weil dieses Recht nur (natürlichen und juristischen) Personen zusteht, die auch Träger von Grundrechten sind.

zeitliche Anwendbarkeit
Nach den Ausführungen des Senats kam § 106 Abs. 5e SGB V in der vom 01.01.2012 bis zum 25.10.2012 geltenden Fassung nur für Prüfverfahren zur Anwendung, die Prüfungszeiträume nach Inkrafttreten der Norm betrafen.
Der nachträglich am 26.10.2012 in Kraft getretene § 106 Abs. 5e Satz 7 SGB V bestimmt, dass der in § 106 Abs. 5e SGB V geregelte Vorrang einer individuellen Beratung vor einer Regressfestsetzung für alle Verfahren der Richtgrößenprüfung gilt, die nicht bis zum 31.12.2011 durch den Bescheid eines Beschwerdeausschusses abgeschlossen waren.

erstmalige Überschreitung
Der Senat führt aus, dass das Tatbestandsmerkmal einer „erstmaligen“ Überschreitung nur dann gegeben ist, wenn der Vertragsarzt sein RGVol nicht bereits in vergangenen Prüfungszeiträumen überschritten hat. Der Begriff „erstmalig“ – gleichbedeutend mit „erstmals“ oder „zum ersten Mal“ – meint schon nach allgemeinem Sprachgebrauch einen Vorgang, der zuvor noch nicht eingetreten ist, ist also im Sinne von „zum ersten Mal geschehend“ zu verstehen; er bezieht sich auf das numerische Moment im Sinne einer zum ersten Mal geschehenden Überschreitung ebenso eindeutig ist, dass sich der Begriff „erstmalig“ auf den Umstand der Überschreitung des RGVol bezieht und nicht auf den Umstand einer „erstmaligen Beratung“ oder auf das Inkrafttreten der Regelung über den Beratungsvorrang.
Sinn und Zweck der Einfügung des § 106 Abs. 5e SGB V war es, Ärzte nach erstmaligen Überschreiten des RGVol nicht unmittelbar einem – trotz der betragsmäßigen Begrenzung durch § 106 Abs. 5c Satz 7 SGB V wirtschaftlich belastenden – Regress auszusetzen, sondern ihnen über eine eingehende „Beratung“ zunächst ohne finanzielle Konsequenzen für die Praxis die Möglichkeit zu geben, ihr Verordnungsverhalten bei Arznei- und Heilmitteln zu modifizieren.
Durch die Einfügung des Wortes „erstmalig“ als Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendung des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V hat der Gesetzgeber zudem verdeutlicht, dass die Privilegierung allein den Ärzten zugutekommen soll, die bislang noch keine Veranlassung zu Prüfmaßnahmen gegeben haben. Der Gesetzgeber wollte jedoch nicht Vertragsärzte privilegieren, die seit Längerem nicht im Einklang mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot tätig sind. Ärzte, die ggf. schon seit Jahren ihr RGVol überschreiten und hinlänglich wissen, welcher Verordnungsumfang von der zuständigen Prüfstelle als wirtschaftlich angesehen wird, bedürfen einer solchen „Beratung“ nicht.

vorangegangene Überschreitung
Nach Auffassung des Senats erfordert § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V zunächst eine Prüfung, ob eine Überschreitung des RGVol um mehr als 25 v. H. vorliegt – und zwar bezogen auf den aktuell zur Prüfung anstehenden Zeitraum. weil sich andernfalls die Frage einer regressersetzenden Beratung überhaupt nicht stellte, und bezogen auf vorangegangene Prüfungszeiträume, weil dies für die Frage der „Erstmaligkeit“ von Bedeutung ist.
Dabei reicht es nach der gesetzlichen Systematik sowohl in Bezug auf die „erstmalige“ als auch auf die „vorangegangene“ Überschreitung allerdings nicht aus, dass rein statistisch das Verordnungsvolumen um mehr 25 v.H. überschritten worden ist, sondern es bedarf zusätzlich der Feststellung, dass die Überschreitungen (jeweils) nicht durch Praxisbesonderheiten begründet sind.
Im Übrigen muss es sich bei der vorangegangenen Überschreitung um eine solche handeln, die von der Prüfungsstelle „förmlich“ festgestellt wurde. Der bloße Hinweis auf eine Überschreitung des RGVol – etwa durch die Geschäftsstelle der Prüfungsstelle – oder entsprechende Erkenntnisse des Arztes aufgrund seiner Praxissoftware genügen nicht.
Der Annahme einer (vorangegangenen) Überschreitung im Sinn des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V steht es nicht entgegen, wenn das Verfahren durch eine vergleichsweise Regelung beendet worden ist, sofern dies die Tatsache einer Überschreitung des RGVol (nach Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten) um mehr als 25 v.H. als solche unangetastet lässt. namentlich gilt dies für Vereinbarungen auf der Grundlage des § 106 Abs. 5a Satz 4 SGB V („Vertrag statt Verwaltungsakt“), welche lediglich eine Verringerung des an sich festzusetzenden Regressbetrages um maximal ein Fünftel beinhalten. Etwas anderes gilt hingegen dann, wenn Inhalt des „Vergleiches“ die Anerkennung von Praxisbesonderheiten mit der Folge ist, dass die danach verbleibende Überschreitung weniger als 25 vH beträgt.
Schließlich setzt die Annahme einer vorangegangenen Überschreitung voraus, dass der Arzt tatsächlich unwirtschaftlich verordnet hat. Stellt sich nachträglich – im Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss oder im Gerichtsverfahren – heraus, dass die von den Prüfgremien fest-gestellte Überschreitung nicht unwirtschaftlich war, ist das Tatbestandsmerkmal „erstmalig“ bei einer Überschreitung in Folgejahren nicht in Frage gestellt. Dabei haben die Prüfgremien für alle Prüfverfahren, in denen § 106 Abs. 5e SGB V Anwendung findet, trotzdem zunächst die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. Wird jedoch nachfolgend der Feststellung der Prüfgremien, dass bereits zuvor eine nicht durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigte Überschreitung des RGVol um mehr als 25 v.H. vorgelegen hat, die Grundlage entzogen, wirkt sich dies auf Bescheide, in denen die Anwendung des § 106 Abs. 5e Satz 1 SGB V wegen fehlender Erstmaligkeit verneint wurde, in dem Sinne aus, dass diese Bescheide nunmehr rechtswidrig geworden sind und daher – sofern keine Bestandskraft eingetreten ist – aufzuheben sind.

Zusammenfassung:
„Beratung vor Regress“ kommt also nur zur Anwendung, wenn nicht in den vorangegangenen Jahren bereits die Überschreitung der Richtgröße von mehr als 25 % festgestellt worden ist.

Anmerkung:
Es bleibt nach dem Urteil des Bundessozialgerichts weiter offen, wie eine Überschreitung der Richtgröße in der Vergangenheit in Berufsausübungsgemeinschaften zu behandeln ist, ins-besondere bei Aufnahme eines Arztes mit Richtgrößenüberschreitung bzw. bei Eintritt eines Arztes ohne Richtgrößenüberschreitung in eine Berufsausübungsgemeinschaft mit Richtgrößenüberschreitung. Dies ist bei Gründung bzw. Änderung einer Berufsausübungsgemeinschaft sowie bei Aufnahme von Ärzten in ein MVZ stets zu beachten.

Haben Sie hierzu Fragen? Rechtsanwalt Robert Raab steht Ihnen unter Tel. 0911/50 49 22-0 oder E-Mail info@raraab.de gerne zur Verfügung.

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